Bilderdossier Nr. 3 – PROFIL
In diesem Abschnitt geht es um die harten Fakten im Gesicht: Knochen, Knorpel, Muskeln, die ganze Landschaft aus Ebenen, Hügeln und Tälern. Seit Menschen einen Begriff vom schönen Gesicht haben, wollen sie es auf eine Formel bringen, es berechnen und reproduzieren können. Das dritte Kapitel von Wie wir so schön wurden verfolgt die altgriechischen Spuren von Symmetrie und Harmonie bis in die Gegenwart digital gemorphter Idealköpfe. Wir verstehen, warum alle Menschen Physiognomien lesen wollen und warum die Pseudowissenschaft der Physiognomik rasend gefährlich ist. Wir begegnen der irrwitzigen “Nasologie” von 1848 und lernen, dass Frauen keine Nasen brauchen, weil sie schließlich auch keinen Charakter haben. Der Nose Job wurde übrigens recht zeitgleich an der Berliner Charité entwickelt, um männlichen Kriegsversehrten und Syphiliskranken zu helfen. Heute ist Teheran die Hauptstadt der Nasen-OPs, und Seoul hat sich zum Zentrum eines weltweiten Chirurgietourismus entwickelt. Da lässt man sich mal eben ein neues Kinn meißeln. Also beginnen wir am besten mit einer Bildhauerin, die zeigt, wie sie eine junge Frau lebensecht versteinert.
“Es gibt kein Gesicht, das nicht eine unbekannte, unerforschte Landschaft umschließt, es gibt keine Landschaft, die nicht von einem geliebten oder erträumten Gesicht bevölkert wurde.”
Gilles Deleuze & Félix Guattari, Tausend Plateaus, 1980
Was die Griechen fanden
Goethe war verknallt, Herder schwärmte von ihm: Apollo von Belvedere, etwa 330 v. Chr. in Athen geschaffen, galt im 18. Jahrhundert als schönster Mann Europas. Heute steht er im Vatikan. Apollos Zwillingsschwester Artemis, die inzwischen im Pariser Louvre wohnt, verkörpert dieselben griechischen Idealvorstellungen. Man schaue vor allem auf den geradlinigen Übergang der Stirn zur Nase. Hier, hinter der hohen Nasenwurzel, vermuteten die Romantiker die Seele, den edlen Geist.
Diese Vorstellungen von perfekter Schönheit gehen zurück auf den Kanon des Polyklet, den berühmtesten Bildhauer der Antike. Er hatte einmal den ganzen Menschen ausgezirkelt und männliche wie weibliche Idealmaße berechnet – die Software zur Bearbeitung von marmorner Hardware.
Die plastische Chirurgie des 20. Jahrhunderts konnte der Versuchung nicht widerstehen, Idealgesichter zu vermessen in der Hoffnung, sie am echten Menschen unendlich reproduzieren zu können.
Goldene Schnitte
Auch der US-amerikanische Chirurg Stephen Marquardt wollte das Geheimnis der universellen Schönheit auf eine Formel bringen. 2005 veröffentlichte er seine “Phi-Maske”: eine Schablone aus geometrischen Figuren des Goldenen Schnitts, die noch heute zur Kopfvermessung in Schönheitssalons (links) verwendet wird. Ihre Allgemeingültigkeit ist längst widerlegt, denn sie passt leider nur auf Marquardts Testgruppe: kantige Modelköpfe zentraleuropäischer Abstammung. Inzwischen hat man mehr als 100 zephalometrische Merkmale bestimmt, die Idealgesichter unterschiedlichster Ethnien charakterisieren. So mag man Attraktivität herstellen können, Schönheit allerdings nicht. Eine Plattform wie Qoves (unten rechts) verbreitet Informationen zur messbaren Vielgestalt hübscher Gesichter. Die gleichförmige Einheitsnase ist ein geradezu lächerliches Trugbild. Visuelle Schönheit entsteht erst in der Abweichung vom Ideal.
Neben der Nasenkorrektur ist die Gestaltung der Kinnlinie eine gefragte Behandlung. Meistens geht es um die Betonung geschlechtsspezifischer Merkmale, die sich auf natürliche Weise unter Einfluss von Sexualhormonen herausbilden. Männer, die sich gern mit Alpha-Rüden identifizieren, lassen sich mit Füllstoffen ein kantiges Kinn spritzen und die Kiefermuskulatur aufpumpen. Evolutionsbiologen sehen Parallelen zwischen der zur Paarungszeit beeindruckenden Größe von Hirschgeweihen und dem männlichen Kinn, das in den vergangenen 200 Generationen immer größer geworden ist. Schaut man sich in entsprechenden Kommentarforen um, fragt man sich nur, ob etwas anderes stattdessen kleiner wird.
Es geht auch sanfter
Fans von körperlicher Unversehrtheit versuchen es vielleicht erst einmal mit Farbe. Um die Hügel und Täler der Gesichtslandschaft zu betonen, wurde Contouring erfunden. Was zurücktreten soll, wird dunkel schattiert. Was herausstechen soll, malt man hell oder schimmernd. Eine plakative Technik, die von den großen Showbühnen in die Fußgängerzone hinabgestiegen ist. Leider wirkt sie dort bei Tageslicht oft sehr deplatziert. “Looking snatched” ist das Ideal. Aber: “Nicht zu viel Produkt, Darling.”
Wenn Glätte, Prallheit und Muskeltonus am Körper durch Gymnastik befördert werden kann, warum sollte das im Gesicht nicht gelten? Face Yoga ist ein Ding. Und die Hirsche mit den weit ausladenden Geweihen arbeiten an ihrem Looksmaxxing, indem sie den ganzen Tag Kaugummi kauen.
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