Bilderdossier Nr. 6 – LIPPEN

Von allen Gesichtsmerkmalen formt sich der Mund beim menschlichen Embryo als Erstes. Als Ort der Nahrungsaufnahme ist er für die meisten Lebenwesen existenziell. Aber nur der Mensch hat diese beiden weichen, empfindsamen, verletzlichen, rosafarbenen Kissen, die diese Öffnung umringen. Das wäre ja nicht nötig gewesen. Oder doch? Anthropologen gehen davon aus, dass die Lippen im Gesicht der Frau ein “genitales Echo” sind, also ein Widerhall aus einer früheren Entwicklungsstufe, als wir uns als Menschenaffen auf allen Vieren ständig auf die Geschlechtsteile gestarrt haben. Mit der neuen Blickachse des “Homo erectus” hätten sich dann auch wesentliche Ornamente auf den Oberkörper der Frau verlagert. Deshalb also Push-up-BHs und roter Lippenstift. Das sechste Kapitel untersucht den Zusammenhang von Fruchtbarkeitssymbolik, Erotik und der Gestaltung menschlicher Lippen. Männer haben – bis auf kurze Phasen gleichberechtiger Schminkkulturen – das Ergebnis meist begeistert angegafft oder ängstlich regulierend eingegriffen.

Wenn die rosarot durchbluteten Lippen im Gesicht an das weibliche Sexualorgan erinnern, wird klar, warum der zum Mund gereckte Lippenstift seit 1883 ein so starkes, verwegenes Bild abgibt.

“Minimalistische Gesten haben patriarchatskonform das Präsentieren geschwollener Genitalien ersetzt.”

Winfried Menninghaus in “Das Versprechen der Schönheit”, 2007

Membranen auf Hochspannung

Der Künstler Erwin Wurm bläst Autos auf. Die Kunstfigur Amanda Lepore bläst ihre Körpermerkmale auf. Beides erinnert auf seltsame Weise an die überzeichnete Erotik der Pornografie. Glänzende Membranen auf Hochspannung. Silikone zum Dahingleiten. In eine anders gestaltete Zukunft? Die Menschen des frühen dritten Jahrtausends wünschen sich dicke Lippen: Zwischen den Jahren 2000 und 2015 ist die Zahl der Lippenvergrößerungen in den USA um fast 50 Prozent angestiegen. Nachdem Kylie Jenner ihre Lippenstiftlinie auf den Markt gebracht und die Kundschaft eingesehen hat, dass man auch mit Liner und Gloss nur bedingt zaubern kann, nehmen die Unterspritzungen weiter zu. Auch Männer lassen das machen. Während die einen weiter versuchen, das voluminöse Maximum auszureizen, um sich für diverse Reality-TV-Formate bewerben zu können, lösen andere ihre Filler schon wieder auf: Es soll doch bitte natürlich optimiert aussehen. Bei den internationalen Stilikonen sind die Schlauchbootjahre offenbar vorüber. Diejenigen allerdings, die zuverlässig mit ihrer Fruchtbarkeitsmimesis Aufmerksamkeit erregen, pimpen und pumpen sich weiter auf.

Der Trend der Nude Lips ist in diesem Zusammenhang besonders interessant. Der Mund soll also mit Make-up optimiert werden, aber ungeschminkt aussehen. Die perfekte Farbe orientiert sich – warum wohl – an gut durchbluteter Haut.

In den 1970ern setzte man mit teintfarbenen, ausradierten Lippen einen Kontrapunkt zur rotgelackten, sinnlich-heimeligen Weiblichkeit der Nachkriegsjahre. Heute heißt das Concealer Lips.

Von hier aus ist es nur ein gedanklicher Katzensprung zu schwarzen, blauen, grünen oder grauen Lippen: In den vergangenen 120 Jahren trug der Mund immer wieder Farben, die an Todesnähe statt Puls erinnern. Und das war kein Zufall, sondern ein Statement. Gegen Reproduktionsklischees, gegen Rollenstereotype, gegen Liebreiz und Verfügbarkeit, manchmal sogar gegen den Fortbestand der menschlichen Spezies an sich.

Die reproduktive Symbolik der Lippen triumphiert jedoch über alle Moden. Das Feuchte, Rosige, Blutrote bleibt ein kultureller, weil biologischer Klassiker.

Siegesrot

Wenn knallrote Lippen doch bloß Sexklischees reproduzieren: Wie wurden ausgerechnet sie zu einem feministischen Symbol? Diese Geschichte beginnt in den 1910er Jahren, als in New York die Suffragetten für das Frauenwahlrecht auf die Straße gingen. Lautstark, klug und unkonventionell wie sie waren, widersetzten sich sich allen geltenden puritanistischen Etiketten. Da hatte Elizabeth Arden endlich die perfekten Werbeikonen für ihren neuen Schönheitssalon an der Fifth Avenue gefunden und stattete sie – der Legende nach – mit rotem Lippenstift aus.

Während des Zweiten Weltkriegs wurde roter Lippenstift sogar zur patriotischen Pflicht an der US-Heimatfront: zur Demonstration weiblichen Durchhaltevermögens, als hübsche Aufmunterung der Soldaten und als gereckter Mittelfinger in Richtung des gegnerischen NS-Regimes, das passend zu seinem Mutterwahn einen ungeschminkten Natürlichkeitskult ausgerufen hatte. Elizabeth Arden reagierte mit der Farbe “Victory Red”.

Kleine Münder, große Münder

Die auffällig bemalten, vollen weiblichen Lippen betonen eine fruchtbare Weiblichkeit. Aber viele Jahrhunderte lang galt der kleine puttengleiche Mund als Ideal. Agnolo Firenzuola beschrieb um 1550 den Frauenmund als “Garten der Lüste”: Klein sollte er sein, mit mittelgroßen Lippen, zinnoberrot, und wenn geöffnet, bitte auf keinen Fall mehr als sechs Zähne entblößen, und das nur im Oberkiefer. Frauen hielten also besser die Klappe und blieben im Zimmer. Ob als Raphaels lüsterne Bäckerstochter (1518) oder Madame du Barry (1781), der Maitresse von Louis XV. Die Künstlerin Kiki de Montparnasse, die in den 1920ern der Pariser Szene den Kopf verdrehte, oder Tamara de Lempicka, die ihre Geliebte Ina Perrot im rosa Negligée mit Bienenstichmund malte: Obwohl der kleine Mund immer als modischer Gegenspieler zur Vollweiblichkeit eingesetzt wurde, war er keineswegs keusch. Seinen großen Auftritt hatte er mit Clara Bow 1926 im Stummfilm “It”. Das erste It-Girl der Geschichte bekam von Max Factor den markanten “Cupid’s Bow” verpasst. Den Rest erledigten die Flapper der “Roaring Twenties”. Bis zum großen Börsencrash bemalte sich dunkel, zackig und in kleiner Form, wer als sexuell befreite Frau, lebensfroh und unabhängig gelten wollte. Und danach – in den Zeiten der harten Entbehrungen, des Kriegs und des Wiederaufbaus – kehrte man zurück zur tröstenden Weichheit großer weicher Lippen.

Die Geschichte der Lippenfarbe ist mindestens 5000 Jahre alt. Archäologische Funde zeugen immer wieder von frühen Schminktechniken und Naturfarben. Und selbstverständlich sind diese Techniken überall auf der Welt, bei vielen Kulturen zu finden. Im Buch erzähle ich ausführlicher von der Gleichzeitigkeit gegensätzlicher Gestaltungsweisen – und auch den absurden männlichen Versuchen, Schminke zu verbieten. Hier noch ein paar weiterführende Videos.

5000 Jahre Lippenfarbe im Überblick

Wie die Chirurgie ideale Lippen definiert

100 Jahre Lippenschminktrends

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