Bilderdossier Nr.4 – AUGEN

Das Denken der Menschen ist beeinflusst von dem, was sie sehen. Und was sie sehen, wird beeinflusst von ihrem Denken. Wie aber sieht das Sinnesorgan aus, mit dem sie sehen? Was machen Menschen mit ihren Augen und inwiefern folgen Gestaltung und Form ihrer Funktion? Darum geht es im vierten Kapitel des Buches. Hundeaugen gegen Katzenaugen, Vamps gegen Lolitas, Horizontale gegen Vertikale. Wir lernen von Charles Baudelaire, Oscar Wilde und Thomas Mann, was es mit dem männlichen Kajalgebrauch auf sich hat, der seit rund 100 Jahren aus der Popkultur nicht mehr wegzudenken ist. Und wir schwelgen in allen Farben des Spektrums. Denn die Augen sind der bunteste Ort im Gesicht.

“Du benutzt Eyeliner und die Leute fangen an, dich anzuschreien. Wie seltsam und wie wunderbar.”

Robert Smith, Sänger von The Cure

“Zeiten einer besonderen Augenkunst scheinen gekennzeichnet durch krisenhafte geistige Situationen, durch tragische Spannungen, durch ein Bewusstwerden tieferer Seelenschichten, durch ein Sichzurückwenden in sich selbst.”

Dagobert Frey, österreichischer Kunsthistoriker

Katze oder Hund, Sirene oder Reh?

Marilyn Monroe (links) hat den Schlafzimmerblick in der Popkultur verankert. Mit diesen schweren Oberlidern drückte sie jeden ins Kissen. Billie Eilish (Bild 2) hingegen hat einen hypnotisch-lebensmüden Blick in der Popkultur verankert. Die Japaner nennen ihre Augenform Sanpaku, “dreimal Weiß”, weil links, rechts und unterhalb der Iris die weiße Regenbogenhaut zu sehen ist. Nur etwa ein Prozent der Menschen hat solche Augen. Im Allgemeinen schminken sich Frauen schmale und leicht schräg stehende Venusaugen, #SirenEyes, die auch schon im Klassizismus als verführerisch galten, oder Rehaugen, #DoeEyes, die mit ihrer runden Form einen Lolita-Charme vermitteln, der im geneigten Betrachter einen archaischen Beschützerinstinkt weckt. Hach.

Die Macht der großen Augen

Alexander der Große (356-323 v. Chr.) ließ sich stets mit riesigen, runden Augen abbilden. So zeigt ihn auch das berühmte Mosaik in Pompeji (links). Hellenistische Schriften berichten von den besonders feuchten und strahlenden Augen des sagenumwobenen Kriegerkönigs. Er betonte sie mit schwarzem Kajal, das war ein Souvenir aus seiner Zeit als Besatzer Ägyptens. Konstantin der Große, von 306 bis 337 n. Chr. römischer Kaiser, tat es ihm nach und ließ seine Statuen mit einem antiken Facefilter versehen: Übergroße, himmelwärts gerichtete Augen sollten neben Charisma und Durchsetzungskraft eine Nähe zur göttlichen Sphäre und seine Erhabenheit über das menschliche Treiben verdeutlichen. Im Vergleich dazu erscheint der wesentliche Grund, warum große weibliche Augen als attraktiv gelten, als überaus plump: das Kindchenschema, auch Neotenie genannt. Aber natürlich wissen auch Frauen, ihre Augen wirksam einzusetzen, nicht zuletzt, weil sie besser mit ihnen kommunizieren können. Um es dennoch auf eine simple Formel zu bringen: Männer mit großen Augen nutzen die Aura der Stärke, Frauen mit großen Augen nutzen die Aura der Schwäche. Nur in den ägyptischen Herrschaftsdynastien galt die Macht der großen Augen für alle.

Widerstand und Affirmation

Während amerikanische Popstars sich die Augenpartie liften und verschmälern lassen, gelten im ostasiatischen Raum große runde Augen als absolutes Schönheitsideal. Wie es dazu kam, erzähle ich im Buch ausführlicher. Bemerkenswert ist der japanische Kawaii-Look: Junge Frauen wollen sich einer patriarchalen, konservativen Gesellschaft widersetzen, in dem sie ausgerechnet süße, hilflose, großäugige Mädchenklischees verkörpern. Beeinflusst von der Anime-Kultur ist es auch für junge asiatische Männer längst okay, sich zu schminken. Die Mitglieder der weltweit erfolgreichen südkoreanischen Boyband BTS machen es vor, und die großen Luxusmarken bedienen den Trend.

Aus Freude an Farben

In den Modefotostrecken sehen wir großflächige Bestäubungen der Augenhöhle in Grün, Gelb, Pink und Blau; wir sehen Jackson-Pollock-Gesprenkel, grafische Linien und pastöse Gloss-Aufträge, Metallic-Lack und Flitter in allen Partikelgrößen. So bunt war es nicht immer. Die alten Ägypter malten sich malachitgrüne Lider, die antiken Römerinnen experimentierten mit gelbem, blauem oder grünem Lidschatten. Und dann passierte fast 2000 Jahre lang gar nichts. Erst Elizabeth Taylor im Film Cleopatra machte das Farbenspiel auf den Augen 1963 wieder massentauglich. Und dann brauchte es Londoner Fantasiefiguren wie Ziggy Stardust und Boy George (links), um die Normen der Geschlechtergestaltung auf flirrende Weise aufzuweichen.

Ikonische Looks

Weil die Augen von so überragender Bedeutung für das menschliche Gesicht und seine Kommunikation sind, finden sich in unserer Bildergeschichte unzählige Beispiele auffälliger Augenpaare. Besonders seit sie opulent mit Farbe gestaltet wurden. Wie Twiggy mit dem Kajalstift umging und sich einen zackigen unteren Wimpernkranz aufmalte, wie Sophia Loren ihren Katzenlook perfektionierte, wie David Bowie sich die ganze Farbpalette aneignete und Naomi Campbell zur Muse der Schattierungskünstler der Neunzigerjahre wurde – diese Klassiker werden uns immer wieder in neuen Spielarten begegnen.

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