Bilderdossier Nr.1 – MASKEN
Im ersten Kapitel meines Buches Wie wir so schön wurden geht es um das Gesicht als Schnittstelle zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit. Die europäische Aufklärung hat uns mit ihrer Theorie von der ersten und zweiten menschlichen Natur einen ziemlich schweren Rucksack hingeknallt. Wann ist denn der zivilisierte Mensch überhaupt noch natürlich? Und warum wird der Wunsch, sich künstlich zu gestalten, so oft verlacht? Wir tauchen von der Pariser Modewoche 2024 hinab zum antiken Theater, streifen Kant und Rousseau, landen beim berüchtigten “Instagram Face”, bei The Power of Makeup, der Clean Girl-Ästhetik und den Digitalfiltern der Gegenwart. Für wen setzen wir uns eigentlich all diese Masken auf? Für wen machen wir uns schön? Psychologie, Soziologie, Wirtschaft und Feminismus haben darauf ganz eigene Antworten. Im ersten Abschnitt geht es etwas mehr um die Ideengeschichte des gestalteten Gesichts als um die Bilder, die daraus entstanden sind.
“Es ist wichtig, dem Impuls zu widerstehen, unveränderte Körper zu romantisieren, als ob wir in eine Zeit zurückkehren könnten, in der unsere Biologie nicht unwiderruflich mit Technologie verbunden wäre.”
Alvaro Jarrín & Chiara Pussetti in Remaking the Human. Cosmetic Technologies of Body Repair, Reshaping, and Replacement, 2021
Unheimlich entgrenzt
Ich beginne das Buch mit Beschreibungen von Cyborgs, denn sie tragen die maximale Maske: menschenähnlich, aber vollkommen technisch hergestellt. Von hier aus lässt sich gut erforschen, wo die natürlichen Grenzen des Menschen liegen und warum uns Bilder von künstlich transformierten Gesichtern einerseits faszinieren und andererseits unheimlich sind. Uncanny. Da ist etwas Übermenschliches, Entgrenztes, gegen das sich alles in uns sträubt, weil wir doch immer nach Gleichheit unter Gleichen suchen.
Diesen Effekt hat die Maskenspezialistin Pat McGrath genutzt, als sie für Maison Margiela im Januar 2024 einen ikonischen Look erfand. Sind das Models, Anziehpuppen oder Roboter? Innerhalb von Minuten gingen die Bilder der Show um die Welt.
Ähnlichkeiten mit Chris Cunninghams legendärem Video zu All is full of love von 1999 sind natürlich rein zufällig. Pat McGrath ist ein großer Björk-Fan, wie sie der BBC einmal erzählte.
Künstlich ist menschlich
Alle setzen sich morgens eine Maske auf, bevor sie in die Welt treten. Zu groß das Risiko, ein unverstelltes Gesicht zu zeigen. Bei manchen ist es ein falsches Lächeln, bei anderen eine vollständige Hülle aus Farben, Ölen und Silikonen. In den sozialen Medien wird der Vorgang der Maskierung öffentlich ausgestellt. Ein #GetReadyWithMe der Popikonen hat denselben Effekt wie vor vier Jahrhunderten die #MorningRoutine in Versailles vor der versammelten Hofgesellschaft.
Das Natürlichkeitsgebot der Aufklärer scheint sich inzwischen in ein Transparenzgebot verwandelt zu haben: Künstlichkeit ist in Ordnung, wenn sie nur ihr Geheimnis verrät. Digitale Fotofilter umgehen diesen Schritt allerdings. Sie täuschen eine Attraktivität vor, die oft weit von der Realität entfernt ist. Das verändert die Wahrnehmung aller, die sich in diesen Bildwelten aufhalten: Sie verlieren den Blick für eine menschliche Normalität. Nicht wenige wünschen sich, genauso auszusehen wie ihr Avatar.
Der Absatz an dekorativer Kosmetik steigt ebenso wie die Anzahl durchgeführter ästhetisch-plastischer Eingriffe. Sind wir auf dem Weg in eine neue Normalität? Selbstverständlich werden auch die Auswirkungen solcher Wahrnehmungsstörungen medial abgebildet. Die Grenzen zwischen dem Spiel mit überzeichneten Schönheitsidealen und einer krankhaften Körperdysmorphie sind fließend.
Für wen tun wir das?
Schminken, Selbstgestaltung, Transformation – das hat auch einen Selbstzweck. Es geht nicht bloß um den male gaze oder darum, sich einem Ideal und einer sozialen Gruppe anzunähern, zu der man gern gehören möchte. Es geht auch um Selbstfürsorge und Kreativität. Davon berichten zahlreiche psychologische Studien. Und das scheint auch der Kern von Nikkie de Jagers Geschichte zu sein, 1994 im Körper eines Jungen geboren, heute als “Nikkie Tutorials” eine der reichweitenstärksten Youtuberinnen.
Nikkie de Jager erklärte 2015 in “The Power of Makeup”, warum sie sich so gern verwandelt.
Zwei Jahre später schminkte sie Kim Kardashian. The “Power of Makeup” war viral gegangen.
2021 mit Adele: In der perfekten Transformation scheint eine eigene Schönheit zu liegen.
Kleines Glossar der Aesthetic Labour
Schönheitsarbeit in verschiedenen Dialekten:
„Weil ich es mir wert bin.“ (postfeministisch)
„Weil es mir mein Geld und meine Zeit wert ist.“ (ökonomisch)
„Weil ihr es mir wert seid.“ (soziologisch)
„Weil meine Laune es mir wert ist.“ (psychologisch)
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