Bilderdossier Nr. 7 – MAKEL
Menschen streben immer nach einem gefälligen Durchschnitt. Aber beeindruckend schöne Menschen unterscheiden sich vom angenehm hübschen immer durch einen vermeintlichen Fehler. Also kann sogar der Makel selbst erstrebenswert sein. Man malt ihn sich einfach auf. Im siebten Kapitel reisen wir durch die Geschichte der optischen Abweichungen, wie sie versteckt und wie sie betont wurden, je nachdem, wer sie als Zeichen gesellschaftlicher Macht nutzen wollte. Was heute noch als Fehler gilt, kann morgen schon Mode sein. Wir begegnen dem Power-Couple Negativity Bias und Pretty Privilege. Wir begreifen die psychosoziale Bedeutung von Normalverteilungen und Prototypen. Und wir verstehen, das Kultur fast alles verändern und umdeuten darf. Solange sie nicht die Schwelle zur menschlichsten aller Ängste überschreitet: dem Tod.
Vom Versteck zum Blickfang
Schon im 16. Jahrhundert, zur Zeit der Epidemien, deckten Männer und Frauen ihre Wunden, Narben und Pigmentflecken im Gesicht mit Pflastern ab. Sie waren meist schwarz, es gab sie in Herzform, als Sonne, Mond und Sterne. Wer den Makel inszeniert, macht eine Tugend draus. Die Mouches, Fliegen, hatten zwei Funktionen: Sie verdeckten den Makel und lenkten Aufmerksamkeit auf Gesichtsmerkmale in der Nähe. Daraus entwickelte sich der Schönheitsfleck, der auch auf unbeschädigter Haut als dekorativer Blickfang eingesetzt wurde. Wem ein kleines Muttermal an einer besonders sinnlichen Stelle gewachsen war, also am Mund oder neben den Augen, konnte sich glücklich schätzen. Aus diesen kleinen dunklen Punkten lässt sich also eine Linie von Marie Antoinette über Marilyn Monroe bis zu Cindy Crawford ziehen. Auch Sommersprossen, die bis zum 20. Jahrhundert die soziale Unterschicht kennzeichneten und daher verpönt waren, haben eine Umdeutung erfahren. Als Symbol von Vitalität und Lebensfreude malt man sie sich heute auf das UV-geschützte Gesicht. Und das absichtsvolle Pflaster ist zurück auf dem Schulhof. Wenn selbst Hailey Bieber ihre Pickel mit süßen Erdbeeren verziert, machen alle mit.
Lückenhaft reizend
Gerade gewachsene, weiße Zähne sind ein Gesundheitsmerkmal wie glänzendes Haar, glatte Haut und klare Augen. Der Karriere von Tom Cruise, Cristiano Ronaldo und David Beckham hat es fraglos geholfen, dass sie ihr Gebiss haben begradigen lassen, um auch im Mund so fit wie am Körper auszusehen. So eine symmetrische Zahnlücke, mit der Jane Birkin, Vanessa Paradis, Léa Seydoux, Georgia May Jagger oder Slick Woods berühmt wurden, bedeutet allerdings keine gesundheitliche Beeinträchtigung. Sie hat eher den Blickfang-Effekt der Schönheitsflecken und vermittelt noch dazu eine lolitahafte Nonchalance – ein unbekümmerter Zahnstand, bevor ihn der Ernst des Lebens in Schraubzwingen pressen konnte.
Versilberte Blicke
Ein Rätsel der Kunstgeschichte besteht im “Strabismus der Venus”: Warum hat Sandro Botticelli ausgerechnet seine Schönheitsgöttin schielen lassen, als sie 1485 der Muschel entstieg? Die Wahrscheinlichkeit eines handwerklichen Fehlers ist sehr gering. Denn 50 Jahre später malte Agnolo Bronzino, der von Wohlhabenden wegen seiner besonders detailgetreuen Porträts beauftragt wurde, Schielende in Serie. Die erste Bildergalerie gibt einen kurzen Überblick. Experten nehmen an, dass der leichte Silberblick, ein aufs Tafelbesteck schielendes Auge, eine Abweichung von der Norm darstellte, die zu jener Zeit als Schönheitsideal galt. Diese kleine Irritation ist gar nicht so selten. Ryan Gosling, Denzel Washington, Lucy Liu, Barbra Streisand, Catherine Deneuve und Alicia Keys sind nur einige prominente Beispiele.
Bruchstellen vergolden
Die Idee, achtsam mit den Unvollkommenheiten umzugehen, die einem das Leben zufügt, ist dem japanischen Kintsugi entlehnt: In dieser Tradition kittet man zerbrochene Keramik in einer Weise, die den Defekt sichtbar bleiben lässt. Die Bruchstellen werden wie Lebensadern vergoldet. Dieser Gedanke trägt auch die #Positivity-Bewegung, die sich den aus der Werbung bekannten Mere Exposure-Effekt zunutze macht: Je öfter wir etwas sehen, desto positiver beurteilen wir es. Wenn wir also mehr Menschen mit Lebensspuren sehen, könnten wir damit den kognitiven Einfluss künstlich optimierter Bilderwelten ausgleichen und uns ein Gespür für die echte Normalität erhalten.
„Ich finde Perfektion hässlich. In allem, was Menschen schaffen, möchte ich irgendwo auch Narben, Misserfolg und Unordnung sehen.“
Durchschnitt & Instinkt
Durchschnittlichkeit ist eine notwendige und ausreichende Bedingung für Attraktivität in allen Gesellschaften. Aber sie haben ihre eigenen Prototypen, verinnerlichte Gestaltmuster, die innerhalb der Population auf Anhieb verstanden werden. Wenn man mindestens 32 Fotos ineinandermorpht, ergibt sich ein Gesicht, das keine herausragenden Merkmale mehr aufweist. Es wird als angenehm und attraktiv beurteilt. Das wahre menschliche Ideal ist der Durchschnitt. Es ist unmöglich, dass alle Menschen dieselben Gestaltmuster verstehen, wenn sie ihnen nicht wiederholt ausgesetzt waren. Um einen Prototyp zu formen und sogar ein neues Ideal zu definieren, braucht es also Sichtbarkeit und das Versprechen von Status. Gegen menschliche Instinkte können aber beide nichts ausrichten. Zwischen 1450 und 1700 war das Habsburger Adelsgeschlecht zwar am deutlichen Unterbiss zu erkennen, aber der wurde kein Schönheitsideal: Weil ihn alle als Zeichen inzestuöser Fortpflanzung erkannten und ahnten, dass diese Ursünde früher oder später im Tod der Sippe enden musste.
Der Tod und das Mädchen
Es tauchen immer wieder modische Ideale auf, die Überlebensnachteile mit sich bringen. Stilettopumps oder vier Zentimeter lange Kunstnägel zum Beispiel. Äußerst selten aber feiern sie den ultimativen menschlichen Makel: seine Sterblichkeit. Naturalistisch betrachtet verkörpert die Frau eine biologische Lebendigkeit und ist deshalb eine so wundervolle Projektionsfläche männlichen Begehrens. Da ist es umso erstaunlicher, dass es tonangebenden, geistig umnebelten Herren im 19. Jahrhundert gelang, die instinktive Angst vor dem Tod zu überwinden: Sie erklärten die siechende Frau zum Schönheitsideal. Von Rousseau, Freud und Lacan über Shelley, Poe und Dickens bis Flaubert, Brontë und Stoker: Dieses Fantasma war überaus produktiv. Ein tuberkulöser Look war vor allem im nasskalten Großbritannien angesagt. Fiebrig, blass, abgemagert und todesnah. Die Ikone des Schwindsucht-Chic war Elizabeth Siddal, Malerin, Dichterin und Muse des Präraffaeliten Dante Gabriel Rossetti. Sie starb 1862 mit nur 33 Jahren schwermütig an einer Überdosis Laudanum.
Mitte der 1990er erlebte der britische Schwindsucht-Chic seine Renaissance. Kylie Minogue trat als ätherische, präraffaelitische Wasserleiche auf. Im Video zu Where the Wild Roses Grow war sie als Wiedergängerin von John Everett Millais’ Ophelia von 1852 zu sehen. Elizabeth Siddal hatte einst für die Leiche Modell gelegen und war dem Wasser mit einer Lungenentzündung entstiegen. Zeitgleich mit Minogue hatten die Frauen aus Jane Austens Sinn & Sinnlichkeit ihre tuberkulären Momente im Kino. Der Film Trainspotting erhob Junkies zu Helden. Der neue ausgemergelte Heroin-Chic auf den Laufstegen trat nicht weniger morbide, aber stattdessen zynisch, laut und subversiv auf. Am Ende des zweiten Jahrtausends forderte der Zeitgeist Körper, die Krankheit und Weltverdruss symbolisierten.
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