Bilderdossier Nr. 9 – IDEALE
Das neunte und letzte Kapitel des Buches untersucht, wohin uns ästhetische Normen und Ideale geführt haben. Zeit, das Für und Wider der heutigen Beauty-Kultur zu reflektieren. Wir haben uns längst einer neuen Schönheitsethik unterworfen, meint die britische Philosophin Heather Widdows. Welche gesellschaftlich aktive Person kann es sich schon erlauben, nichts auf ihr Aussehen zu geben? Wer kann Kosmetik, Körperpflege, Mode vollständig ablehnen, ohne mit Sanktionen rechnen zu müssen? Vor diesem Hintergrund relativiert sich die Frage, ob es unfeministisch sei, sich zu schminken oder den Körper zu optimieren. Das Problem ist nicht weiblich und nicht individuell, sondern systemisch. Außerdem erklärt uns eine philosophische Überblicksstudie endlich, was einen wirklich schönen Menschen ausmacht.
Die schöne Helena ist eine griechische Sagengestalt, ein unerreichbares Ideal, hier im Jahr 2004 verkörpert von Diane Kruger im Film Troja. Antike Maler und Bildhauer waren sich einig, dass keine reale Person alle schönen Merkmale auf sich vereinen kann. Absolute Schönheit war schon vor 2500 Jahren ein Kompositum.
„Helena heiß ich, meine Schicksalsleiden tu ich kund. (...) Ist auch schön, was Leiden bringt?“
Systemkollaps
Eine der größten Herausforderungen für den Menschen ist es, seinen eigenen Erfindungen zu widerstehen. Nicht alles, was geht, ist auch gut. Und selbst wenn die hypertrophen Körper der Kardashian-Butt-Lift-Ära jetzt wieder etwas moderatere Formen annehmen: Das erstrebenswerte Ideal ist weder für Frauen noch für Männer erreichbar, weil es eine Illusion bleiben muss, um dieses unstillbare Begehren wecken zu können. Wie damals die schöne Helena.
Unter diesem Druck müssen Badezimmerregale und Psychen zusammenbrechen. Wir sehen Frauen bei ihrer Schönheitsroutine, wie sie gegen Schönheitsroutinen anargumentieren. Wir sehen Frauen, die eine systemische Schuld in sich selbst suchen. Wir sehen eine 19-Jährige im OP, die sagt, sie wünsche sich seit vier Jahren eine Schamlippenverkleinerung, Brustvergrößerung und Fettabsaugung an den Achseln. Und wir sehen die olympische Rugby-Heldin Ilona Maher weinen, weil sie als starke, muskulöse Frau so vielen nicht ins Bild passt.
„Man glaubt gar nicht, wie viel Hässlichkeit die angestrengte Beschäftigung mit der Schönheit erzeugt.“
„Nichts tut der sanfte Totalitarismus lieber, als seinen Opfern den Wahn der Selbständigkeit zu belassen oder gar diesen Wahn überhaupt erst zu erzeugen.“
„Dieses Gewese um Schönheit wird immer unerträglicher. Die Menschen sollten sich mehr anstrengen, weniger dumm zu sein, denn das würde sie am besten kleiden.“
Er hat längst nichts mehr zu lachen
Der Normkorridor verengt sich für alle. Glaubt man den Ästhetik-Predigern und Maskulinisten in den sozialen Medien, müssen auch Männer unbedingt an ihrem Gesicht arbeiten. Was natürliches Testosteron nicht hat wachsen lassen, wird jetzt mühsam oder teuer optimiert. Wie am Körper, so am Kopf.
Wir müssen einen Umgang finden mit einer omnipräsenten Visualität, die Schönheit so hoch bewertet wie nie zuvor. Uns blind zu stellen für ihre Verführungskraft ist allerdings auch keine Lösung, sondern nur eine Form des Gaslighting: Die Wirksamkeit von Schönheitsidealen zu leugnen oder Einzelpersonen zu verurteilen, weil sie sich von der Wirksamkeit unter Druck setzen lassen, kommt einem gemeinen Ablenkungsmanöver gleich. Den Kampf gegen systematische Normen dem Individuum zu überlassen macht das Individuum kaputt, aber nicht das System. Die Vorverurteilung von Menschen aufgrund ihres Aussehens ist uns angeboren und anerzogen. Gleichzeitig wissen wir, wie ungerecht und folgenschwer sie ist. “Eine Gesetzgebung gegen diesen Typ der Diskriminierung – so moralisch und so plausibel sie erscheinen mag – wäre vielleicht der erste Fall einer Gesetzgebung gegen ein Verhalten, das alle Gruppen einer Gesellschaft alltäglich praktizieren”, meint der Kulturwissenschaftler Winfried Menninghaus.
Ein “Lookism”-Gesetz – interessanter Gedanke. Aber wie wäre es zunächst mit einem bewussteren Bilderkonsum? Mit der Annahme, dass soziale Medien vor allem ein kollektives Täuschungsmanöver sind? Oder mit einer Kennzeichnungspflicht gefilterter Fotos und KI-generierter Videos? Mit mehr Aufklärung über die Kosmetikindustrie und absurde Produktversprechen? Was wäre, wenn ästhetische Medienkompetenz und Selbstwert zum verpflichtenden Ethikunterricht in der Schule gehörten? Da geht ganz bestimmt noch was. Mehr dazu in meinem Buch Wie wir so schön wurden. Eine Biografie des Gesichts.
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